Kommentar: Die Baisse, die keiner kommen sieht

Ohne die Erfindung des Aktienindex wären wir als Investoren wirklich aufgeschmissen. Dann müssten wir regelmäßig die Kursentwicklung mehrerer hundert Aktien ermitteln, um ein Gefühl für die Markttendenz zu gewinnen. Diese Arbeit nehmen uns Indizes wie der S&P 500 oder hierzulande der DAX ab. Für den erfahrenen Börsianer reicht es also, täglich oder wöchentlich einen Blick auf einen der genannten Indizes zu werfen und schon haben wir einen recht verlässlichen Eindruck vom Marktgeschehen.

Es gibt allerdings gelegentlich Marktphasen, in denen der Index lügt oder nur die halbe Wahrheit erzählt. So notiert derzeit der Leitindex S&P 500 auf Monatssicht praktisch stabil. Trotzdem haben in den letzten Wochen bereits 220 börsennotierte US-Unternehmen – gerechnet auf ihr Rekordhoch – 20 % oder mehr abgegeben und befinden sich damit technisch betrachtet in einem Bärenmarkt.

Dabei schreibe ich nicht von irgendwelchen Nebenwerten aus der vierten Reihe. Meine Software hat nur die Titel des Kurszettels erfasst, die eine Marktkapitalisierung von über 10 Milliarden USD aufweisen. Diese Titel sind also markt- und in der Praxis für die meisten Börsianer auch depotrelevant. Darunter finden wir namhafte Adressen wie Walt Disney, Netflix, Twitter oder den SAP-Konkurrenten Salesforce.com.

Völlig schiefes Bild im NASDAQ-Segment – 39 % der Positionen tief unter Wasser

Völlig schief ist das Bild, das der NASDAQ 100 derzeit von seinem Segment zeichnet. Hier steht auf Monatssicht lediglich ein moderater Indexverlust von knapp 4 % zu Buche. Tatsächlich allerdings haben sich – wieder gerechnet auf ihr Rekordhoch – fast 40 % der NASDAQ-Aktien inzwischen mindestens halbiert. Namhafte Opfer aus diesem Marktsegment sind beispielsweise Enphase Energy, PayPal, Moderna oder Biogen.

Wie erklärt sich diese Verzerrung? Warum bildet der NASDAQ 100 die breite Marktkorrektur momentan nur sehr eingeschränkt ab? Die Antwort finden Sie in der Gestaltung oder ganz konkret in der Gewichtung des Index. So stehen allein die Positionen Apple, Microsoft und Amazon für rund 29 % der Indexperformance. Und diese drei Dickschiffe haben sich zuletzt eben immer noch vergleichsweise stabil gehalten.

In der Praxis kommt von dieser Stabilität bei uns nicht viel an, denn wer von uns hat sein Depot zu einem Drittel nur aus diesen 3 Aktien zusammengestellt? Stattdessen spielten viele Anleger zuletzt etwa die zuvor schon genannte Impfstoff-Aktie Moderna. Der Titel verlor in den vergangenen 3 Monaten 42 % seines ursprünglichen Wertes. Der NASDAQ 100 freilich spiegelt dieses (und auch andere) Kursdebakel nicht wider, weil die Aktie im Index nur zu 0,6 % gewichtet ist.

Zinswende verschreckt die Investoren

Warum erkläre ich Ihnen den Sachverhalt so ausführlich? Lassen Sie mich Ihnen als Autofahrer antworten: Die Korrektur nährt sich in unserem toten Winkel. Wir haben sie bis jetzt kaum erkannt, weil wir einseitig auf die Performance der Leitindizes geschaut haben. Jetzt sehen wir allerdings klar und werden folglich die geeigneten Maßnahmen ergreifen. Beachten Sie in diesem Zusammenhang bitte die Updates!

Abschließend noch einige Sätze zum Auslöser der verkappten Korrektur: Übergeordnet leidet der Aktienmarkt unter der geldpolitischen Kehrtwende, die die US-Notenbank im November kommuniziert hat. Noch im Februar wird das Anleihenkaufprogramm beendet. Auf der anstehenden März-Sitzung wird der Offenmarktausschuss der Fed den ersten Zinsschritt beschließen. Stand heute müssen wir im laufenden Jahr mit 4 Zinserhöhungen in Folge rechnen.

In diesem Zusammenhang hatte ich gestern im Rahmen meiner Sprechstunde eine interessante Diskussion mit einem neuen Premium-Leser. Wir sind der Frage nachgegangen, ob 4 Zinsmaßnahmen, also in der Addition ein Leitzins in Höhe von 1 %, den Aktienmarkt wirklich aus dem Tritt bringen können.

Natürlich nicht! Ein Leitzins von 1 % ist immer noch niedrig und bringt keine Volkswirtschaft der Welt um. Freilich denken Börsianer immer in die Zukunft und wissen, dass Jerome Powell auch in den Jahren 2023 und 2024 geldpolitisch wirken wird und den Leitzins weiter aufstocken kann. Mehrere Zinserhöhungen am Stück und in enger Taktung bezeichnen Profis auch als sog. Zinserhöhungspfad.

Zuletzt hat der Markt dieses Phänomen in den Jahren 2004 bis 2007 gesehen, als die Fed den Leitzins 17-mal in Folge angehoben hat. Für die Neubörsianer unter Ihnen: 2008 war kein angenehmes Börsenjahr, um es milde zu formulieren.

Zur Vermeidung von Missverständnissen: Diesen Zinserhöhungspfad sehe ich noch lange nicht. Gleichwohl verstehen Sie sofort, dass in dieser Gemengelage viele Investoren eher vorsichtig agieren und nicht gleich jede Kursdelle kaufen. Anders formuliert: Die Investoren sind risikoscheu und haben zuletzt folglich die Risiko-Segmente gemieden.

Der Mikrotrend: Die Corona-Profiteure werden geschlachtet

Natürlich erinnern Sie sich alle noch an den Höhepunkt der Corona-Krise (Delta-Variante), als wir uns daheim einschließen mussten. Folglich konferierten wir per Videoschalte aus dem Homeoffice, bestellten pausenlos Pizza im Internet und schafften uns vielleicht noch ein Laufband an, da wir nicht mehr auf die Skipiste oder ins Fitnesscenter durften.

Alle diese Dienstleistungen und Produkte des Lockdowns brauchen wir absehbar künftig weniger. Folglich räumten viele Investoren in großem Stil diese sog. Corona-Profiteure großzügig aus ihren Depots. Einige Beispiele: Die Aktie der Zoom Video (digitale Videokonferenzen) sackte auf Jahressicht um 56 % ab. Die Titel des Lieferdienstes Delivery Hero verloren in diesem Zeitraum 41 %. Besonders übel wurde der Spezialist für internet-gestützte Laufbänder und Trimmräder, Peloton Interactive, gebeutelt. Wer hier vor einem Jahr gekauft hat, liegt nun 79 % in den Miesen.

Eine selbstkritische Zwischenbemerkung: Leider konnte ich Ihr Depot (NextGeneration-Depot) vor diesem Strudel nicht vollständig schützen. So beruhen die Kursverluste unserer Position Zur Rose wesentlich auf dem geschilderten Effekt. Die Verschiebung des deutschen E-Rezeptes war letztlich nur der berühmte letzte Tropfen. Ich bin da ganz offen: Ich habe die schädliche Umkehr des Corona-Effektes nicht ausreichend erkannt.

Dieser negative Corona-Effekt ist allerdings nur ein Mikrotrend, der nächstens auslaufen wird. Unverändert gilt: Das Geschäftsmodell Online-Apotheke oder auch Videokonferenz ist uneingeschränkt zukunftstauglich. Der erste Boom der digitalen Geschäftsmodelle erleidet aktuell einen mittelprächtigen Rücksetzer. Aber auch wenn das Corona-Virus gehen wird, werden wir das Internet nicht abstellen.

Bringt die Berichtssaison die Wende?

Ich hoffe, ich habe Ihre Stimmung nicht gänzlich ruiniert. Wenn doch, habe ich zum Abschluss durchaus einen Stimmungsaufheller für Sie. Selbstverständlich ist dieser Marktkommentar nur eine Momentaufnahme, die in der nächsten Woche keinen mehr von uns interessiert. Börse ist bekanntlich immer auch ein Tagesgeschäft.

So starten wir nun in die Berichtssaison und dürfen durchaus auf sehr vernünftiges Zahlenmaterial hoffen. Nach Analystenschätzungen sollen die Gewinne der US-Unternehmen (S&P 500) im abgelaufenen Quartal um 22 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen sein. Im Vergleich zu den Vorquartalen ist das nicht unbedingt ein Topwert. Aber: Prozentual zweistelliges Gewinnwachstum wird sicherlich keinen Crash oder dergleichen auslösen.

Fazit: Lassen Sie mich als Fußballer sprechen: Wir müssen das Spielfeld noch lange nicht verlassen. Gleichwohl ist es für uns wichtig, den einen oder anderen Stürmer nächstens durch eine kompetente Defensivkraft zu ersetzen.

Eine harmlose Kursdelle?

Zwei-Jahres-Chart: Zuletzt ist der NASDAQ 100 auf seinen mittelfristigen Aufwärtstrend zurückgelaufen, so die offizielle Erkenntnis. Der inoffizielle Befund ist schon ein anderer: Einige wenige Flaggschiffe halten sich noch stabil. Eine Handvoll anderer Indexmitglieder verliert nur moderat. Die Hälfe der Indexmitglieder befindet sich allerdings im Baissemodus.